Wenn ein Ästling zum vermeintlichen Waisen wird

Es ist wieder so weit, man kann es an jeder Ecke hören. Es zwitschert und tschilpt. Geschäftige Elternvögel sind unentwegt auf Nahrungssuche. Die Brut- und Aufzuchtzeit der Vögel ist im vollen Gange. Eine gute Zeit, um auf das Problem der, oftmals vermeintlich als hilfsbedürftig eingestuften, Jungvögel hinzuweisen.         
Vögel durchlaufen in ihrer Entwicklung bestimmte Lebensphasen. In diesen sind sie – ähnlich wie bei uns Menschen – unterschiedlich stark auf ihre Eltern angewiesen. Ab dem Schlupf aus dem Ei bezeichnet man die Jungtiere als Nestlinge. Die anfangs noch blinden, flugunfähigen Vögel sind in dieser Zeit völlig auf die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen. Die Alttiere sorgen für ausreichend Nahrung und halten die Jungen warm. Bis die Nestlinge ausreichend groß und befiedert sind bleiben sie in ihrem Nest. Erst wenn sie bereit zum Trainieren der selbstständigen Nahrungsaufnahme sind, werden sie flügge und verlassen das Nest. Ein heikler Moment für die nun als Ästlinge bezeichneten Vögel. Zwar werden sie noch von ihren Eltern versorgt, sie sind aber Gefahren schutzlos ausgesetzt. Paradoxer Weise ist eine dieser Gefahren der Mensch. Aus Sorge um die anscheinend hilfsbedürftigen Spatzen, Meisen oder Amseln, entfernen sie diese aus ihrer Umgebung und von ihren Eltern. In dieser Jahreszeit stehen die Telefone von Wildvogelstationen nicht still. Dabei wird der erhebliche Pflegeaufwand pro Vogel völlig unterschätzt und ist oft unnötig.

Deshalb soll hiermit informiert werden, wie Ästlinge von Nestlingen zu unter­scheiden sind und ab wann es sinnvoll ist in natürliche Prozesse einzugreifen.

 

Was ist zu tun, wenn man einen Jungvogel findet?

Zunächst ist es ratsam, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen:

1. Ist das Tier verletzt?

Ist man sich nicht sicher, ob der Jungvogel verletzt ist, kann man das Tier auch vorsichtig auf Verletzungen untersuchen. Entgegen der landläufigen Meinung versorgen die Eltern ihren Nachwuchs weiterhin, auch wenn er von einem Menschen berührt wurde, da heimische Vögel keinen ausgeprägten Geruchsinn haben. Liegt eine eindeutige Verletzung vor, gilt abzuwägen, ob man in die Natur eingreift. Es fällt oft schwer zu akzeptieren, dass die Natur es vorsieht, dass ein bestimmter Teil der Tiere nicht überlebt. Es besteht hier jedoch immer die Möglichkeit vor Ort Kontakt zu einer Wildvogelstation aufzunehmen, um mit Experten Rücksprache zu halten.

Liegt hingegen keine Verletzung vor, gilt es einzuschätzen, ob es sich um einen Nestling oder einen Ästling handelt.

 

2. Nestling oder Ästling?

Sehr junge Nestlinge sind durch ihre Nacktheit und geschlossenen Augen gekennzeichnet. Sie „sitzen“ zudem auf ihrem gesamten unteren Beinabschnitt. Ältere Nestlinge besitzen bereits ein paar Federn, haben geöffnete Augen und stehen auf ihren Füßen. Ein Nestling ist auf Wärme und Futter angewiesen. Setzen Sie das Tier, sofern sein Nest auffindbar ist, vorsichtig zurück ohne die Vogelfamilie zu lange zu stören.

Ist kein Nest auszumachen, stellt sich wieder die Frage, ob man der Natur seinen Lauf lassen sollte. Sie könnten aus trockenem Gras ein kleines Nest formen und im Baum befestigen, um den Nestling hineinzusetzen. Zugegeben kein leichtes Unterfangen. Im Zweifelsfall bleibt auch hier der Anruf der Wildvogelhilfe.

Sieht man sich einem eher ungeschickt hopsendem, Vogel mit kurzem Schwanz und Federn gegenüber, handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Ästling. Lassen sie das Jungtier einfach an Ort und Stelle. Das vermeintlich verwaiste Tier trainiert seine Selbstständigkeit und wird dabei in regelmäßigen Ab­ständ­en von seinen Eltern versorgt.

Hilfe ist erst dann angeraten, wenn sich das Jungtier in einer unmittelbaren Gefahrenzone, wie auf oder an einer Straße, einem Radweg oder auf einer Baustelle befindet. In diesem Fall dürfen Sie furchtlos zupacken und den Jungvogel aus dem Gefahrenbereich in ein nahe­liegendes Gebüsch oder zu einem ruhigen Ast bringen.

Bei allem Naturschutzgeist bleibt immer die ehrliche Frage an jeden selbst, ob man eine Trennung von Eltern und Kind verantworten kann und ob ein Eingriff in einen natürlichen Kreislauf nötig ist. Tatsache ist, dass einige Arten bis zu viermal im Jahr brüten und damit Verluste ausgleichen können.